Let's Twist Again


Too young to be retired
 
Es war einmal! Vier noch rüstige Lebewesen reisen zu Fuß gemeinsam zu einer Stadt, um dort als Team eine neue Berufskarriere zu starten. Ihre beruflichen Wirkungsstätten haben sie verlassen, weil sie ausgemustert wurden. Alle waren in ihren Jobs erfolgreich und haben mit Fleiß und Expertise ihren Beitrag zu Prosperität und Fortbestand der Unternehmen geleistet, auf deren Payroll sie standen. Doch nun hatten alle nach Ansicht ihrer Chefs das Verfallsdatum erreicht. Go west war deshalb ihre Parole. Auf nach Bremen, auf in die Freie Hansestadt.
 
Sie meinen, Sie kennen die Geschichte. Ist Ihnen vielleicht als Kind erzählt worden, haben Sie eventuell in einem Märchenbuch gelesen. Oder Sie haben möglicherweise bei einem Aufenthalt in Bremen davon erfahren, wo den vier couragierten Senioren in exponierter Citylage ein Denkmal errichtet wurde. Ein Wahrzeichen dieser Stadt, obwohl die Geschichte keine Auskunft darüber gibt, ob sie dort als Bremer Stadtmusikanten aufgetreten sind. Doch das ist für die Geschichte nicht wesentlich.
 
The prognostic quality of some fairy tales

Das Märchen wurde 1819 in der 2. Auflage der Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm veröffentlicht. Die Gebrüder Grimm gelten als renommierte Sprachwissenschaftler, zählen zu den Gründungsvätern der Germanistik, haben sich um die Volkskunde verdient gemacht. Vor allem aber waren die Gebrüder Grimm Vollblutromantiker und gelten als renommierte Repräsentanten der literarischen Romantik. Von diesem point of view bekommt das Märchen eine tiefere Bedeutung, die weit über den Unterhaltungswert einer Fantasy Geschichte hinausreicht, weil sie ein sich damals schon abzeichnendes Problem beleuchtet. Die Romantik ist als Kulturepoche vor allem eine Reaktion auf die beginnende Industrialisierung und die damit einhergehenden Veränderungen. In ländlichen, aber auch urbanen Großfamilien und Handwerksbetrieben wurden ältere Menschen meist aufs Altenteil gesetzt. Sie erhielten Kost und Logis und konnten sich noch nützlich machen, oft wurde auch ihr Rat eingeholt. Neben der gesicherten Versorgung hatte ihr Dasein in der Partizipation am betrieblichen oder häuslichen Arbeitsleben noch einen Sinn. Sie wurden noch gebraucht und nicht als ausgediente Arbeitskraft mit dem Gnadenbrot entsorgt beiseitegestellt. In der wachsenden Klasse der Industriearbeiter hingegen, die meist in Kleinfamilien lebten, war dem ausgemusterten Werktätigen ein anderes Schicksal beschieden. Vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund hat das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten das Format einer Fabel, die Intention eines Gleichnisses mit einer moralischen Pointe.
 
Es war einmal? Die sozio-ökonomischen Komponente, der Versorgungsnotstand im Alter, ist indes zwischenzeitlich durch Einführung der Rentenversicherung 1891 und in der Folge mit weiteren Maßnahmen zur Altersversorgung, topaktuell der Umsetzung einer Grundrente, wesentlich abgefedert worden. Dennoch hat das Märchen auch 200 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung eine Bedeutung, die nicht nur allein die Altersversorgung betrifft. Die vier Fabelwesen, wie wir nachlesen können, fühlten sich alle in der Lage, noch etwas Nützliches auf ihre vier Beine zu stellen. Das Musizieren im Quartett war ihre Geschäftsidee, Bremen als Boom-City seinerzeit der ideale Ort für ihren kreativen Startup als Senioren. Die Generalprobe in Art einer Hausbesetzung konnten die vier schon auf ihr Erfolgskonto verbuchen. Ihr zweiter Auftritt zeigte zudem, dass ihr kreatives Produkt echte Marktreife besaß. Märchen müssen erfolgreich umgesetzte Business-Strategien natürlich in ihren fabulösen Bildern erzählen.
 
Was als realistischer Kern bleibt, ist das Bewusstsein der vier Senioren, noch lange nicht zum alten Eisen zu gehören, und die Courage, sich aktiv und engagiert an der Wertschöpfung zu beteiligen. Damals war die durchschnittliche Lebenserwartung beträchtlich kürzer. Auch gab es für die Werktätigen den Begriff der Lebensarbeitszeit mit anschließendem Ruhestand noch nicht. Bar solcher Verheißungen arbeitete ein jeder solange, wie er konnte. Sollte es für die qualifizierte Berufsausübung nicht mehr reichen, gab es immer noch Beschäftigungen, die ausgeübt werden konnten. In der Fabel das Musizieren, wenn möglich in der Anstellung als Stadtmusikanten. Wie nachstehend noch beschrieben wird, ist diese Einstellung bei vielen Rentnern zweihundert Jahre später immer noch en vogue.
 
Change of consciousness through a "life lie"

Durch die Rentenversicherung und die nachfolgenden Maßnahmen zur auskömmlichen Altersversorgung bei nicht selbständigen Werktätigen wandelte sich sukzessive die Gewissheit auf materielle Sicherheit als Rentner in ein fatales Anspruchsdenken. Bei uns in Deutschland ist dieser Switch bereits in den ersten Jahren des Wirtschaftswunders als Errungenschaft des Sozialstaates erkennbar. Es entwickelte sich rasch das Narrativ einer wohlverdienten dritten Lebensphase, der arbeitsfreien Rentnerzeit. Beflügelt durch das Renteneintrittsalter und später durch Altersteilzeitmodelle entstand ein Bewusstsein, mit der Rente endlich frei vom Joch der Arbeit zu sein. Umgangstheologisch könnte man sagen, die Zeit „Danach“ wurde - durch die Botschaften diverser Organisationen verkündet - wie ein vorgezogenes Paradies thematisiert. Die Konsumgüterindustrie und Touristik in erster Linie schufen auch schon die ersten Erlebnisparks für eine seniorenhedonistische „Zeit danach“. Wie verfestigt dieser Anspruch ist, zeigen die Reaktionen bestimmter Parteien und die Protestnoten bestimmter Interessenverbände bei der Erhöhung der Lebensarbeitszeit.
 
Nun soll niemandem das Recht auf ein arbeitsfreies Leben nach langer Erwerbstätigkeit beschnitten werden. Nur sollte diese Entscheidung jedem selbst überlassen werden. Wie den vier Stadtmusikanten, die noch nicht das Ende ihrer Kräfte fühlten.
 
Denn die Wirklichkeit des Rentnerdaseins entspricht oft nicht dem Mythos. Abgesehen vom Problem der Altersarmut, drängen immer mehr Rentner auf den Arbeitsmarkt. Von 2000 bis 2016 stieg die Zahl der erwerbstätigen Rentner laut Bundesarbeitsministerium von 530.000 auf 1,45 Millionen. Jeder zwölfte Rentner verdient sich heute im Ruhestand etwas hinzu. Jeweils rund 90 Prozent der erwerbstätigen Rentner haben Spaß bei der Arbeit, brauchen den Kontakt zu anderen Menschen oder wünschen sich weiterhin eine „Aufgabe“, nennt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) die wichtigsten Umfrageergebnisse. Sie erinnern sich vielleicht. Dass ein Großteil der Rentner nur Minijobber sind, ist sicher darin begründet, dass bei einem höheren Salär Einkommensteuer gezahlt sowie Beiträge für die Krankenkasse und Pflegeversicherung geleistet werden müssen und eine Anrechnung auf die Rentenbezüge stattfindet.
 
Um in der Sprache der Eisenbahner zu bleiben. Mit dem Eintritt in die Rente befindet man sich auf einem Drehkreuz. Wer es will und vor allem hat, genießt jetzt die 24/7-Freizeit á la gusto. Etliche Rentner aber geraten in Unruhe und lähmende Langeweile. Sie drängt es in die Wartezimmer von Arztpraxen, weil es im Ruhestand eben schneller irgendwo zwickt oder zwackt. Andere wiederum suchen Beistand in Seniorenclubs, um der drohenden Langeweile zu entkommen. Ein großes Auffang- und Abklingbecken für Rentner ist das Ehrenamt. Wer sich dort engagiert, hat das Bewusstsein, sich noch sinnvoll und nützlich einzubringen. Der ungebrochene Trend vieler erwerbstätiger Rentner, aktuell 1,45 Mio. und Tendenz kräftig steigend, sich noch in die Wertschöpfungskette einzureihen, ist das andere Gleis. Laut Statista wird im Jahr 2025 die Zahl der erwerbstätigen Rentner halb so groß wie die Zahl der erwerbsaktiven Bevölkerung sein.
 
Eingedenk der demografischen Entwicklung und des schon seit Jahren reklamierten Fachkräftemangels braucht die deutsche Wirtschaft die Senioren Ü65
plus. . Es wäre Aufgabe der Politik, attraktive Anreize zu setzen, die über den Minijob hinausgehen. Die Bereitschaft, sich mit seinem in langen Jahren angereichertem Know-how und fachlicher Expertise einzubringen, darf nicht mit dem Malus von zusätzlichen Abgaben belastet sein. Einen Vollzeitjob streben bekanntlich die wenigsten an, doch der Minijob gerät einfach zu kurz. Sicher wäre es angeraten, dass sich in dieser Angelegenheit die Entscheider den Rat der Gebrüder Grimm einholen. Das Narrativ von der volonté général, mit Bezug der Rente ein arbeitsfreies Leben führen zu wollen, erweist sich angesichts der geschilderten Entwicklung als pures Märchen. Das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten hingegen enthält eine gute Prise Wahrheit. Da sind wir uns sicher einig. Daher empfehle ich Let's Twist Again von https://www.youtube.com/watch?v=eh8eb_ACLl8
 
 

Let's Twist Again (1)