Balance of Power


Die „Balance of Power“ - Waage und Wagnis zugleich

Der permanente Kunstgriff, das geopolitische Kräfteverhältnis zu stabilisieren

 

Dieter Feige, Februar 2022

Ein Beispiel aus der deutschen Eisenbahngeschichte zeigt uns auf, wie diese Balance in Schieflage geraten kann: Die Hedschasbahn, ein Ableger der legendären Bagdadbahn, die ein Prestigeprojekt der wilhelminischen Ära war. Das Schicksal dieser Pilgereisenbahn von Damaskus nach Medina lässt gut einhundert Jahre später einen Vergleich zur gegenwärtigen Situation in Europa zu: Der Nato-Russland-Konflikt um die Ukraine. Sprechen die Waffen, oder erringt die Diplomatie bis auf Weiteres einen Patt bis auf Weiteres? Aus aktuellem Anlass wird nachfolgend dieses Kapitel aus einer längeren Abhandlung über die Bagdadbahn hier veröffentlicht.

 

Nun, die „Balance of Power“ ist die von den pragmatischen Briten nach Vorbild der Physik entwickelte Garantieformel, das Gleichgewicht eines friedlichen Miteinanders der Völker in Allianzen und Bündnissen zu regulieren. Die philosophische Vision des „Ewigen Friedens“ von Kant konnten Völkerbund und UNO in Resolutionen zwar stets proklamieren, indes nicht gewährleisten. Aus der Geschichte wissen wir aber auch, dass bei Kräfteverschiebungen dieses fragile Gleichgewicht oft auf der Kippe stand, auch Kriege nicht verhindern konnte. Mit der Bagdadbahn beispielsweise erzürnte Kaiser Wilhelm II., mit Sultan Abdülhammit II in Waffenbrüderschaft eng befreundet, die europäischen Großmächte. „Meine Bahn“ nannte er sie 1903 keck und fügte ironisch hinzu: „ .. mit einer Verbeugung vor dem britischen Löwen und einem Knicks vor dem russischen Bären unsere Bahn bis Kuwait am Persischen Golf hindurchschlängeln.“ (zitiert aus „Der Traum vom Orient“, Potsdam, 1905). Preußen war im Kern stets eine Armee, das als kleiner Staat am Baltikum zur Großmacht in Deutschland expandierte.

 

Der deutsche „Platz an der Sonne“ im Orient wird mit und auf Schienen erobert

Mit dem Konzessionsvertrag zum Bau und Betrieb der Bagdadbahn von Konya bis zum Persischen Golf 1903 bekamen die deutschen Hoffnungen auf neue Absatzmärkte, die Einfuhr dringend benötigter Agrarerzeugnisse, die Gewinnung von Rohstoffen in Kleinasien sowie die Pläne auf Handelswege bis nach Indien mächtigen Auftrieb. Die Bevölkerung hier nahm jährlich um eine halbe Million zu, es mangelte an Arbeitsplätzen, Lebensmittel mussten noch in größeren Mengen importiert werden, für die neuen Produkte der Montanindustrie, der chemischen Fabriken und Elektroindustrie fehlten Abnehmer, da die Handelsabkommen der Großmächte den Marktzugang blockierten. Es gab im wilhelminischen Reich sogar Überlegungen, deutsche Familien in Mesopotamien anzusiedeln, Handwerker und Landwirte vornehmlich, um die heruntergekommenen Agrarflächen zu rekultivieren, damit das einst fruchtbare Zweistromland, die „Kornkammer Anatoliens“, wieder zu voller Blüte auflebt. Sogar deutsche Lehrer sollten entsendet werden, um Deutsch zur ersten Fremdsprache und deutsche Kultur zu etablieren. Träume der Semikolonialisierung. Die Bismarck’sche Doktrin, "Hände weg von Kleinasien, um die Beziehungen zu Großbritannien und dem Zarenreich nicht aufs Spiel zu setzen" war kein diplomatisches Hindernis mehr, da Bismarck 1889 vom Kaiser in den Ruhestand beordert wurde. Wilhelm II. pfiff auf die britische „Balance of Power“, dass auf dem Kontinent nicht eine Großmacht alleine dominieren dürfe, sich stattdessen zwei oder drei Großmächte in Schach halten müssten. Wilhelm II. wollte seinen „Platz an der Sonne", da das Kaiserreich mittlerweile zur drittgrößten Wirtschaftsnation aufgestiegen war. Der „Orient“ bot die einmalige Chance für die Verwirklichung seiner imperialen Gelüste. Die „Anatolische Eisenbahngesellschaft“ wurde im gleichen Jahr von Georg von Siemens als AG mit einem Kapital von 81 Mio. Reichsmark (heute 1,4 Mrd. Euro) gegründet, die Zulieferer für die Bahnprojekte waren einzig deutsche Unternehmen. Schienen von Krupp, Loks von Krauss, Maffai und Borsig, Waggons von der Hannover’schen Maschinenbau und Esslinger Maschinenfabrik, Streckenbau durch Philipp Holzmann. Die Dinge nahmen ihren Lauf.

 

Bereits 1892 wurde der Bau der Strecke Haydarpaşa - Eskişehir - Angora (Ankara) begonnen, die 445 Kilometer lange Strecke von Eskişehir nach Konya, dem Ausgangspunkt der Trasse bis nach Bagdad und weiter Basra, wurde in den Jahren 1893 bis 1896 in Rekordzeit gebaut. 1903 ging es 200 Kilometer weiter mit der Strecke von Konya nach Bulgurlu, dann ruhte das Projekt sechs Jahre. Seit 1887 war Heinrich August Meißner im Osmanischen Reich unter Vertrag, reüssierte ab 1892 mit der Projektleitung des Baus der Strecke von Thessaloniki nach Konstantinopel und wurde dadurch zum Großwesir des orientalischen Bahnbaus und Günstling des Sultans. Das sollte sich schnell auszahlen, weil der Sultan einen kühnen Traum hatte, als oberster Kalif die Herzen aller Moslems zu gewinnen. Die Erfüllung war der Bau einer Eisenbahnstrecke von Damaskus nach Medina und später weiter nach Mekka, um die Pilger bequem und schnell auf der Haddsch zu den heiligen Stätten zu befördern. 1900 rief er die islamische Welt zu einer Spendenaktion für die Hedschasbahn auf, die immerhin fast ein Drittel der veranschlagten Kosten einbrachte. Da diese Bahn überdies einem strategischen Zweck dienen sollte, übernahm das Osmanische Reich den Bärenanteil der Finanzierung. Zugleich wollte der Sultan damit unter Beweis stellen, dass Bau und Betrieb eines solch großen Bahnprojekts auch in Eigenregie des Osmanischen Reiches geleistet werden konnte. Mit der Bauleitung beauftragte er 1901 Meißner, dem er während der Bauzeit bereits 1904 den Titel Pascha verlieh. Im Kaiserreich betrachtete man dieses Vorhaben mit Wohlgefallen. Als reine Pilgerbahn deklariert, war es mehr ein Trojanisches Pferd. War man nicht an den Kosten beteiligt, bescherte das Projekt jedoch deutschen Unternehmen volle Auftragsbücher. Für die deutsche Bahnbauindustrie bedeutete diese Herausforderung zudem einen beträchtlichen Zuwachs an Know-how und Expertise mit dem Ziel der Marktführerschaft. Die Militärs begrüßten im Sinne der Waffenbrüderschaft diese Bahnlinie für militärische Transporte in diese instabile Region des Osmanischen Reiches. Truppen und Material konnten schnell zu den Militärbasen befördert werden. Meißner hatte berechnet, dass in 36 Stunden rund 3.000 Soldaten von Damaskus bis nach Ma’an, nahe dem Golf von Akaba, transportiert werden konnten. Nicht zuletzt sah die Wirtschaft in der Bahn einen potentiellen Handelsweg in Richtung Ägypten und Nordafrika, die noch fest in der britischen Einflusssphäre lagen.

 

Das Pilgermobil Hedschasbahn nach Medina - ein „Trojanisches Pferd“

Beginnendes Ungleichgewicht

Als der Gleisbau der 1.320 Kilometer langen Strecke von Damaskus bis Medina 1908 fertiggestellt wurde, war das der krönende Abschluss eines technoromantischen Abenteuers und einer Pionierleistung par excellence. Meißner hatte enorme Herausforderungen zu bewältigen, meisterte aber als Organisationstalent sämtliche Hindernisse. Als Christ durfte er die Provinz Hedschas südlich von Damaskus nicht betreten, musste also seine muslimischen Ingenieure präzise für die Trassierung und den Streckenbau instruieren. Was ihm perfekt gelang. Da er die türkische Sprache vorzüglich beherrschte und mit der Mentalität der Menschen vor Ort bestens vertraut war, konnte er mit Geschick in Verhandlungen mit lokalen Beamten und Repräsentanten der Obrigkeit rasch Einigkeit erzielen. Orient und Bakschisch waren seinerzeit Synonyme. Außerdem mangelte es an Arbeitskräften, die dort lebenden Beduinen kamen für diese Tätigkeiten nicht in Frage, sodass zeitweilig bis zu 7.500 Soldaten für die Arbeiten abkommandiert wurden. In die Wüstenregion musste das Material für den Untergrund von Dämmen und für den Schotter von weit her transportiert werden, es mangelte an Wasser, das mittels Brunnenbohrungen nicht in ausreichender Menge gefördert werden konnte und deshalb mit Wassertankwagen herbeigeschafft wurde. Es gab etliche Wadis in der hügeligen Region, die nach Regenfällen sich in reißende Flüsse verwandelten und alles wegspülten. Sie mussten mit aufwendigen Konstruktionen wie Durchlässe, Dämme und Tunnel überbrückt werden. Meißner hatte sich für seinen künftigen Einsatz bei der Bagdadbahn auf vorbildliche Weise qualifiziert und einen Meilenstein für deutsche Technologie und Bahnindustrie gesetzt.

 

War die Hedschasbahn wegen der Unterstützung durch das Deutsche Kaiserreich vom ersten Spatenstich an ein Politikum, vor allem von Großbritannien sehr beargwöhnt, so bekam die Schmalspurbahn sechs Jahre nach der Fertigstellung mit dem Kriegsausbruch 1914 eine strategische Bedeutung, da das Osmanische Reich im Sinne der Waffenbrüderschaft mit Deutschland gemeinsam in den Krieg zog. Sharif Hussein, Emir von Mekka, verkündete 1916 den Arabischen Aufstand der dort lebenden Beduinenstämme, angestachelt durch Großbritannien, das den Zugang nach Indien gefährdet sah. Der für den britischen Geheimdienst tätige Leutnant Thomas Edward Lawrence, Lawrence of Arabia, wurde dank seiner Sprachkenntnisse als Verbindungsoffizier dorthin entsandt. Den Aufständischen verschaffte er die Materialien und Gerätschaften für die Zerstörung von Brücken, Tunneln und Gleisen, führte sie bei Sprengstoffanschlägen oft an. Auch wurden Telegrafenmasten zerstört. Die Osmanischen Truppen in Medina und Mekka waren nun ab 1917 von der Versorgung und Kommunikation abgeschnitten. Fliegerstaffeln des deutschen Levante-Korps, das die osmanischen Truppen unterstützte, gelang es nicht, die verdeckten Operationen auszuschalten. Am 1. Oktober eroberten die Rebellen Damaskus, gefolgt von britischen Streitkräften. Die britische Krone hatte diese Schlacht durch Sabotage gewonnen. Damit zerplatzten die kühnen Visionen im Kaiserreich, mit der Hedschasbahn die Handelsroute nach Ägypten und Nordafrika etabliert zu haben.

 

Kaiser Wilhelm II. hat mit seinem Griff nach dem Orient die Gesetze der „Balance of Power“ schlichtweg ignoriert und ist grandios gescheitert. Warum? “Spannst du eine Saite zu stark, wird sie reißen. Spannst du sie zu schwach, kannst du nicht auf ihr spielen“, so eine Weisheit von Buddha zur Kunst, das rechte Gleichgewicht zu finden und zu halten. Diese Lehre charakterisiert auch die aktuelle Situation des Kräftemessens zwischen Russland und der NATO. Es bleibt zu hoffen, dass die Balance im Spiel der Kräfte zum Wohle aller durch Entspannung wiederhergestellt wird.

 

 

 

 

 

The British Museum
The British Museum


Ansichtskarte 1898
Ansichtskarte 1898


Karikatur Kaiser mit Sultan 1914
Karikatur Kaiser mit Sultan 1914


Zeitungsausschnitt aus nicht mehr auffindbarer Quelle
Zeitungsausschnitt aus nicht mehr auffindbarer Quelle


NZZ Laurence von Arabien im gepanzerten Rolly-Royce durch Damaskus
NZZ Laurence von Arabien im gepanzerten Rolly-Royce durch Damaskus